Offene Räume
RUBRIKEN. Fußballer versiegeln die Räume, SUVs signalisieren soziale Distanz. Es wird ungemütlicher, doch wir tun uns zusammen. Wann, wenn nicht jetzt?
POPULÄR GESEHEN: Eine Kolumne von Martin Schenk
Wer die Fußball-Weltmeisterschaft gesehen hat, hat bemerkt: Die Räume werden eng. Tag für Tag und Match für Match haben die Netzwerkanalytiker um den Soziologen Harald Katzmair den Spielverlauf verfolgt, die Passwege dokumentiert und die Spielkombinationen ausgewertet. „Was wir beobachten konnten, war eine generelle Versiegelung des Raums“, sagt er. Über 90 Minuten wurde alles so gründlich zugestellt, dass ein kreatives Kombinieren kaum mehr möglich war. Die Basis dafür bildete eine sichtbare Aufrüstung der Körper. Bis vor wenigen Jahren schienen austrainierte Oberkörper unter Fußballern eher Ausdruck persönlicher Eitelkeit zu sein, jetzt sind sie Bestandteil der Spielausstattung. Diese Renaissance des Heldenkörpers rückt den Spielmacher als Impulsgeber in den Hintergrund. Wir haben eine in manchen Phasen äußerst brutale WM erlebt. Die Körper prallten „wie Projektile aufeinander“ (Katzmair). Der Heldenkörper verstellt und bemächtigt sich am Fußballplatz des Raums.
Auf der Straße ist auch was los. Da machen große Geländewagen den Raum dicht. Diese „Sportnutzfahrzeuge“, kurz SUVs, werden mehr und mehr. Sie sind Geländewagen ohne Gelände, erhöhte Straßenkreuzer im umkämpften Verkehrsalltag. Ich sehe viele dicke Autos durch die Straßen rollen. Ein Zusammenstoß mit den großspurigen Gefährten wird jedenfalls nicht gut für den „Gegner“ ausgehen. Der/die typische SUV-FahrerIn ist etwas älter und verfügt über ein deutlich höheres Einkommen als der Durchschnitt. Die Ausbreitung von Geländewagen gerade dort, wo gar kein Gelände ist, setzt ein Zeichen. Diejenigen hinterm Lenkrad können für sich fantasieren: Ich könnte jetzt ausbrechen aus dieser Straße, wenn ich es wollte. Ich bin nicht von dieser schnöden Straßenwelt. Das SUV ist ein Abstandhalter zwischen sich und der Welt da draußen, es sorgt für Abstand zwischen unten und oben. Ein Auto bemächtigt sich des Raums und signalisiert soziale Distanz.
Beide Beobachtungen sagen: Es wird ungemütlicher, härter, mit weniger Luft und weniger Raum. Aber ausgemacht ist nichts. Die Kräfte, die den Raum besetzen und den Status quo beherrschen, sind nicht automatisch stärker als jene Kräfte, die sich auf die Suche nach dem Neuen und den offenen Räumen machen. Auch wenn es gerade für kreative SpielgestalterInnen und kooperative Impulsgebende nicht so gut auszusehen scheint. Diese Taktiken des zugestellten Raumes bei gleichzeitiger sozialer Distanz haben einen erheblichen Nachteil: Wir fühlen uns von der Welt und anderen Menschen getrennt. Eines ist immer möglich: sich zusammenzutun und etwas zu wagen. Wann, wenn nicht jetzt? Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als Freiräume zu nützen und etwas auszuprobieren.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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