Kriegssprache
RUBRIKEN. Über den Versuch, die Verständigung zu diskreditieren.
SONDERECKE: Um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger
Frauen-Versteher. Putin-Versteherin. Palästinenser-Versteher. „Verstehen“ ist nun endgültig als Schimpfwort in den medialen Sprachgebrauch eingegangen. In der Soziologie ist Verstehen ein umfangreich besprochener Begriff. „Menschen handeln Dingen gegenüber aufgrund der Bedeutung, die sie diesen Dingen zuschreiben, und diese Bedeutung entsteht in sozialer Interaktion“, sagte der US-Soziologe Herbert Blumer Ende der 1960er. Wer Verhaltensweisen von Menschen nachvollziehen will, muss untersuchen, welche Bedeutung Menschen oder Kollektive mit ihrem Verhalten verbinden – so wie die Erfahrungen und Interaktionen, auf denen die jeweils eingenommene Perspektive gründet.
In politischen Debatten tummeln sich Falken und Tauben. Falken trachten danach, ihre eigenen Interessen auch gegen Widerstände durchsetzen. Sie suchen keine Kompromisse und schrecken auch vor gewaltvollen Strategien nicht zurück. Sie fragen nicht und analysieren nicht, ihr Diskursverhalten dient der maximalen Umsetzung eigener Absichten.
Zwischentöne und unterschiedliche Perspektiven sind Falken ein Gräuel. Konflikte erscheinen als Frage von Gut und Böse, deshalb verlangen Falken von ihrem Umfeld, sich auf (die) eine Seite zu stellen. Mediation verschleppt in ihren Augen nur Konflikte. Wirkungsvoll beigelegt werden Konflikte durch den Sieg: wenn die andere Seite aufgibt. The winner takes it all. Das gesellschaftliche Ordnungsprinzip der Falken ist die Konkurrenz.
Tauben hingegen müssen sich nicht auf ganzer Linie durchsetzen. Sie sind um Ausgleich bemüht. Konflikte verstehen sie als Ausdruck unterschiedlicher Interessen in freien Gesellschaften und nicht als Folge schuldhafter Handlungen. Deshalb bemühen sie sich um eine ausgewogene Beilegung. Ein Konflikt ist dann gelöst, wenn alle Beteiligten damit gut leben können. Tauben lassen unterschiedliche Wahrheiten und gegensätzliche Standpunkte gelten. Sie wollen die Sicht aller Parteien ergründen. Ihr gesellschaftliches Organisationsprinzip ist Kooperation. Verstehen und Verständigung sind ihre Techniken der Konfliktbeilegung.
Nach Gutmensch und Opfer wurde nun also auch Versteher zum Schimpfwort. Erneut ist es den Falken gelungen, ein Stück Sprache zu etablieren, das die Tauben diskreditiert. Die Falken wollen der Allgemeinheit ihre Rede von der einen Wahrheit und der Durchsetzung als Konfliktlösung unterjubeln. Die Ziele ihrer Angriffe sind nicht nur die jeweilige Gegenseite, sondern auch Ambivalenz und Ausgleich. In dieser Situation sind Versteher-Versteher gefragt. Menschen, die sich öffentlich zu Ausgleich und Verständigung bekennen. Stärken wir die Tauben. Gerade bei den Konflikten in der Ukraine und in Gaza ist ihre Stimme zu leise. In sozialen Medien, aber auch in der veröffentlichten Meinung in Print, Funk und Fernsehen.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo