Ein Menschenrecht auf Natur
Das existenzielle Thema für die nächsten Generationen ist die Zerstörung der Natur. Seit 2012 gibt es ein UN-Mandat für Menschenrechte und Umweltschutz, aber ökonomische Interessen und paradoxerweise auch der Klimaschutz erweisen sich als Hindernisse. | Text: Eva Maria Bachinger
Belá (Name geändert) setzt den Vollvisierhelm auf und steigt aufs Gas. Mit seiner Enduro fährt er über Stock und Stein durch den Wald. Er folgt dem Kreischen der Motorsägen und dem Krachen fallender Bäume. Weil die Ranger des Semenic-Nationalparks Augen und Ohren verschließen, fotografiert er jeden illegalen Kahlschlag und überträgt die GPS-Daten auf eine digitale Karte. Abgeholzt wird knapp an der Grenze und innerhalb des Parks. Als uns Belá zu einer Lichtung führt, geben die Stümpfe eine Ahnung davon, wie groß die Bäume hier einmal waren. „Zu viele haben nur Motorsägen und Geld im Kopf “, sagt er. Vom höchsten Punkt des Nationalparks im Südwesten Rumäniens sieht man bis zum Horizont nur Wald: hellgrün, dicht und wild. Zwei Adler steigen gerade auf und lassen sich wieder fallen. Es ist ein Wald, wie man ihn nur noch selten zu Gesicht bekommt: Seit 6.000 Jahren stehen auf diesem Fleck Erde Bäume, manche von ihnen sind etwa 500 Jahre alt. Ein Hoffnungsschimmer ist, dass ein Teil dieses letzten Buchenurwaldes der EU demnächst von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt wird. Das ist dringend nötig, denn in Rumäniens Wäldern herrscht Goldgräberstimmung. Laut Satellitenauswertungen wurden in den Jahren 2000 bis 2011 rund 280.000 Hektar Wald kahl geschlagen oder stark dezimiert.
Jahrelange Kampagnenarbeit
Der Naturschützer Matthias Schickhofer ist durch Europa gereist und hat Urwaldreste für einen Bildband, der im Herbst im Brandstätter-Verlag erscheint, fotografiert. „Ich will den Zauber dieser Wälder vermitteln, dass es diese Schätze noch gibt, auf die man ganz besonders aufpassen muss.“ In einem Urwald ist der volle Lebenskreislauf im Gange: Bäume in allen Alterstufen, alte, die absterben und umfallen, liegen bleiben, daneben gedeiht neues Leben. Gefährdete Käferarten, Fledermäuse, Nattern, unzählige Vogelarten, sowie die großen Jäger Bär, Wolf und Luchs sind hier zuhause. Laut Greenpeace gibt es nur noch auf 6,4 Prozent der Fläche Europas intakte Wälder. Erstaunlich ist, dass bloß 15 Prozent der Urwälder streng geschützt sind. Der Rest ist letztlich Freiwild. Um acht der letzten Urwälder Finnlands unter Schutz zu stellen, brauchte es jahrelange Kampagnenarbeit und wochenlange harte Verhandlungen, berichtet Schickhofer. „Kinder sind die Zukunft“, heißt es in Sonntagsreden. Doch das existenzielle Zukunftsthema für die nächsten Generationen wird zwar viel beredet, aber nach wie vor halbherzig bekämpft: die Zerstörung der Natur. Resignierend heißt es im Bericht „2025“ des Club of Rome: „Erziehen Sie Ihre Kinder nicht zu Naturliebhabern. Wenn Sie Ihrem Kind beibringen, die Einsamkeit der unberührten Wildnis zu lieben, so wird es etwas lieben, das es immer seltener geben wird. Sie erhöhen dadurch die Chance, dass Ihr Kind unglücklich wird.“ Trotzdem haben die ExpertInnen offenbar noch Hoffnung. Bei der Präsentation ihres Berichts appellierten sie, es nicht so weit kommen zu lassen.
Menschenrecht auf sauberes Wasser
„Wir haben eine moralische Pflicht, Naturlandschaften für die nächsten Generationen zu erhalten“, betont Gerhard Heilingbrunner, der 21 Jahre lang Präsident des Umweltdachverbandes war. Ein „Recht auf intakte Natur“ für alle Menschen lässt sich von der Menschenrechtsdeklaration nicht direkt ableiten. Doch Naturschutz ist die Basis für existenzielle Menschenrechte wie Recht auf Leben, auf Gesundheit. Dass der Zusammenhang zwischen Human Rights und Umweltfragen zunehmend ernst genommen wird, sieht man auch daran, dass es seit März 2012 ein UN-Mandat für Menschenrechte und Umweltschutz gibt. Erst im März 2015 wurde es durch einen „Sonderberichterstatter“ aufgewertet. Der US-amerikanische Jurist John Knox untersucht fortan die menschenrechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf Naturschutz und mahnt sie ein. 2010 hat die UNO auch das Recht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser als Menschenrecht festgeschrieben. Das Thema wird zudem dadurch brisanter, dass unter den 50 Millionen Flüchtlingen jener Anteil von Betroffenen steigt, die aufgrund des Klimawandels ihre Lebensgrundlagen verloren haben. Mehrere Staaten haben zudem das Recht auf eine gesunde Umwelt bereits verfassungsrechtlich verankert, wie etwa Bolivien. „Es ging bisher immer um das Recht des Menschen auf Leben, wir wollen aber menschliches Leben in Beziehung zu anderen Lebensformen sehen“, erklärt der Politologe Oscar Vega Camacho, ein Unterstützer der neuen Verfassung. Seit 2009 gilt in der EU die Grundrechte-Charta. Unter Artikel 37 ist festgehalten: „Ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität müssen in die Politiken der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.“ Dieser Grundsatz hat Verfassungsrang. Für Gerhard Heilingbrunner ist der Artikel eine entscheidende Hilfe für Bürgerinitiativen und NGOs. „Denn so kann gegen eine Verordnung eines Ministers, die etwa eine Aufweichung von Emissions-Grenzwerten vorsieht, geklagt werden.“ Der Verfassungsgerichtshof hat auch eine Beschwerde von Heilingbrunner angenommen, worin er beanstandet, dass NGOs bei naturschutzrechtlichen Verfahren bisher keine Parteistellung hätten.
Auch bei der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) geht es nicht mehr allein um ein Bürgerrecht, sondern auch um Menschenrechte, betont der Anwalt Wolfram Proksch. In der EU-Richtlinie zur UVP heißt es, dass nicht nur die Folgen eines Vorhabens auf die Natur zu prüfen seien, sondern auch die auf den Menschen. Er vertritt Anrainer beim Flughafen Wien, die befürchten, dass durch den Bau einer dritten Piste ihre Lebensqualität noch mehr leiden wird, da Fluglärm und Treibstoffrückstände die Gesundheit der betroffenen BürgerInnen massiv gefährden. Durch zahlreiche Studien sei erwiesen, dass Fluglärm und Luftverschmutzung zu gesundheitlichen Problemen führen. Der Zubau am Flughafen wurde ohne UVP errichtet, obwohl das nötig gewesen sei, so Proksch. Bei der dritten Piste sei eine mangelhafte UVP durchgeführt worden. Derzeit wird am Bundesverwaltungsgericht über die Beschwerde der AnrainerInnen gegen den Bescheid 1. Instanz verhandelt. Notfalls werde man bis zum Höchstgericht gehen, so der Jurist.
Ein Wolf im Böhmerwald
Der Kampf für Naturschutz ist oft eng verzahnt mit grundlegenden Menschenrechten. Ein Beispiel ist der Mega-Staudamm in Belo Monte, Brasilien. Betroffen sind 20.000 Indigene und ihr Lebensraum. Oder der Ilisu-Staudamm in der Türkei: Das Zweistromland im Irak trocknet seit mehr als zehn Jahren aus, durch die Staumauer möglicherweise noch mehr, befürchten ExpertInnen. Tausende Menschen sind betroffen. Der Widerstand gegen diese beiden Großprojekte ist groß, immer wieder kam es zu Baustopps. Doch bisher konnten sie nicht gänzlich aufgehalten werden wie in Chile: In der patagonischen Naturidylle wären fünf Staudämme errichtet worden, die Regierung hat 2014 das Projekt nach massiven Protesten ad acta gelegt. Österreich galt im Vergleich zu anderen Staaten lange als Umweltmusterland. Doch diesen Status habe man mittlerweile verloren, sagt Heilingbrunner. Zuwenig wird für Umweltschutz getan, eine internationale Studie bescheinigte Österreichs Naturräumen zuletzt keinen guten Zustand. Unter diesen Umständen war ein einsamer Wolf, der im oberösterreichischen Böhmerwald in die Fotofalle lief, bereits eine Sensation. Das Ötscherland hat den Braunbären zwar noch als Werbe-Ikone im Einsatz, doch real lebt dort kein einziger der wieder angesiedelten Bären mehr. Auch das Luchs-Projekt in den Kalkalpen erfährt einen herben Rückschlag, ein mysteriöser Schwund an Männchen gefährdet das gesamte Projekt. Zuletzt wurde ein toter Luchs in der Tiefkühltruhe eines Tierpräparators gefunden. Hauptproblem ist aber die fortschreitende Zersiedelung der Landschaft und Versiegelung des Bodens durch neue Eigenheime, Straßen und Einkaufszentren. Der einzige Urwald, den es im gesamten Alpenbogen noch gibt, ist der 400 Hektar große Rothwald in Niederösterreich. Einzelne Waldstücke dürfen in Österreich seit 20 Jahren immerhin in rund 200 Naturwaldreservaten verwildern. Das klingt nicht schlecht, tatsächlich befinden sich heute aber weniger als ein halbes Prozent der Wälder in einem Naturzustand, rund drei Prozent unterliegen mehr oder weniger starken Einschränkungen und 97 Prozent sind Wirtschaftswald. Und die 200 Naturreservate sind vielfach klein, auf eine Fläche von nur 20 Hektar beschränkt. Den Bund kostet die Abgeltung an die Waldbesitzer dafür etwa eine Million Euro pro Jahr – Peanuts im Vergleich zu anderen Ausgaben. Trotzdem ist das Naturreservate-Projekt gefährdet, warnt Michael Johann von den Grünen Bauern. Das Landwirtschaftsressort plant dessen Finanzierung in das EU-Budget „Ländliche Entwicklung“ zum Teil auszulagern. „Da einzelne Waldbesitzer nicht umsteigen können, wie etwa die Bundesforste oder die Stadt Wien, droht ein Auseinanderfallen eines bisher einheitlichen Programms mit einem Ansprechpartner in Wien“, kritisiert Johann. Er befürchtet, dass durch die aufwändigeren EU-Förderanträge viele private Waldbesitzer aussteigen und dann die bisher geschützten Wälder nutzen werden. Anders sieht das Gerhard Mannsberger, der zuständige Sektionschef im Landwirtschaftsministerium. Er geht davon aus, dass durch die Auslagerung sogar 20 bis 30 Prozent mehr Gelder zur Verfügung stehen werden. Damit könnten, so Mannsberger, die derzeit insgesamt 8.600 Hektar umfassenden Reservate auf 10.000 Hektar erweitert werden. Wie schwer Naturschutz gegen wirtschaftliche Interessen durchsetzbar ist, zeigt eine Aussage in einer PR-Beilage der Holzfirma Schweighofer, Marktführer in Rumänien: „Den Erschwernissen bei der Waldbewirtschaftung oder gar bei der Außer-Nutzung-Stellung von wertvollen Wirtschaftswaldflächen ist entgegenzuwirken. Denn nur ein genutzter Wald ist ein geschützter Wald.“
Ein zu hütender Schatz sind in der Alpenregion auch natürliche Flusslandschaften: Nur noch elf Prozent der Flüsse sind laut einer Boku-Studie in ökologisch intaktem Zustand. Die Soca in Slowenien, der Tagliamento in Italien oder Lech und Isel in Österreich müssten eigentlich unter strengen Schutz gestellt werden. Obwohl der Großteil der Flüsse in Österreich reguliert und gestaut ist, sollen sich aber laut WWF-Experten Christoph Waldner etwa 120 größere und kleinere Kraftwerksprojekte im Genehmigungsverfahren befinden. Im Namen des Klimaschutzes hat sich das Image von Wasserkraft gewandelt, der Naturschutz ist in den Hintergrund gerückt. Der Verbund forciert mit Hilfe der Kampagne „Danke, Wasserkraft“ die Imagekorrektur, auch die Satiriker Dirk Stermann und Christoph Grissemann stellten sich dafür zur Verfügung. Für Aufsehen hat der Plan der Tiroler Landesregierung gesorgt, in dem sich ÖVP und Grüne klar zu Kraftwerksbauten bekannt haben. Der Widerstand dagegen ist groß und rief auch die Grande Dame der Grünen, Freda Meissner-Blau, auf den Plan. Sie kritisierte ihre ParteikollegInnen öffentlich. Kein Wunder: Sie hat vor 30 Jahren um den Erhalt der Hainburger Au gekämpft, die Identität der Grünen Partei ist auch darin begründet. Eine besondere Pointe ist heute, dass der Salzburger Grüne Stadtrat Johann Padutsch eine Turbine an der Salzach nach ihm benennen ließ. Auf die Frage, ob Naturschutz durch die Grünen in Oberösterreich nun wichtiger sei, lacht ein Betreuer eines Schutzgebietes nur abgeklärt und meint: „Die Grünen sind eher kontraproduktiv. Energiewende über alles.“ Der Einfluss der Ökonomie ist enorm, alle Lebensbereiche werden wirtschaftlichen Prinzipien untergeordnet und weniger ethischen Normen. Eine traurige Kapitulation vor diesem Trend ist der Versuch, sogar den Wert von Natur zu beziffern: „Der Wert aller Ökosysteme weltweit beträgt heute bis zu 145.000 Milliarden US-Dollar. Wenn wir sie zerstören, schaden wir uns damit selbst“, warnt Barbara Tauscher vom WWF. Dass ein Adler, ein Wald, ein Fluss einen Wert an sich haben, dass sie nur wegen ihrer schlichten Schönheit und Unwiederbringlichkeit zu bewahren sind, ohne dass wir einen monetären Nutzen davon haben, gerät dabei in Vergessenheit. Dass wir uns existenziell schaden und Menschenrechte nicht einhaltbar sind, wenn wir natürliche Grundlagen zerstören – zumindest das sollte klar sein.
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