Vier zentrale Fragen zur Flüchtlingspolitik
Einiges in der Debatte der „Flüchtlingskrise“ scheint durcheinander zu geraten. Ein kurzer Leitfaden anhand der Fakten. Text: Philipp Sonderegger
1. Nimmt Österreich viele Flüchtlinge auf? (Spoiler: Nein)
„Österreich tut sehr viel für Flüchtlinge!“ In Österreich betont man gern die eigenen Leistungen. Doch stimmt es auch mit der Realität überein? Auf Nachfrage werden meist Flüchtlingswellen in der Vergangenheit angeführt. Und die sind nach heutigen Maßstäben tatsächlich beachtlich. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR hat folgende Zahlen veröffentlicht: Während der Ungarnkrise Mitte der 1950er Jahre kamen 180.000 Menschen nach Österreich. Die meisten UngarInnen zogen jedoch weiter, nur ein Zehntel blieb. Beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 flüchteten 160.000 TschechInnen und SlowakInnen nach Österreich, 12.000 von ihnen blieben. Der Zerfall Jugoslawiens in den 1990ern brachte rund 100.000 Flüchtlinge nach Österreich. Immerhin, es blieben mehr als die Hälfte, rund 60.000. Insgesamt sind seit 1945 rund 2 Millionen Menschen nach Österreich geflohen. 700.000 sind geblieben, im selben Zeitraum wurden 7 Million ÖsterreicherInnen geboren.
Und wie sieht es heute aus? Abgesehen von einer Spitze im Jahr 2002 wurden in Österreich jährlich zwischen 10 und 20 Tausend Asylanträge gestellt. Aber wegen des Krieges in Syrien und im Irak lautet die Prognose des Innenministeriums für heuer bekanntlich 80.000 Asylanträge. Ob diese Zahl nun als hoch oder niedrig eingeschätzt wird, hängt von den angewendeten Vergleichsmaßstäben ab - welche auch gleich Auskunft über ideologische Hintergründe geben. Hierzulande ist der Bezug auf die EinwohnerInnenzahl üblich. Das suggeriert eine „kulturelle“ Belastung, die sich am zahlenmäßigen Anteil der Flüchtlinge an der gesamten Bevölkerung bemisst. Nach dieser Vergleichsmethode steht in Europa Schweden mit 15 Asylsuchenden pro Tausend EinwohnerInnen an der Spitze. Österreich liegt mit rund 0,4 Anträgen hinter Deutschland, Belgien, Zypern und Malta. International ist Europa aber als Schutzregion weit abgeschlagen. Gerade einmal Schweden und Malta schaffen es weltweit unter die ersten zehn. Angeführt wird die Rangliste vom Libanon mit 232 Flüchtlingen pro 1.000 EinwohnerInnen – vor Jordanien, Nauru, Chad, Djibouti und Süd-Sudan. Doch die Gewichtung nach finanzieller Kapazität ist aussagekräftiger: Zieht man die jährlich 30 Millionen Ankünfte von TouristInnen in Österreich ins Kalkül, kann man davon ausgehen, dass Flüchtlinge – wenn überhaupt - eine finanzielle Belastung darstellen. Die Intensität sozialer Konflikte ist offenkundig finanziell bzw. die Qualität der Betreuung steuerbar. Daher bietet sich der Vergleich nach dem BIP pro Kopf an. Am meisten Flüchtlinge pro Dollar BIP/Kopf versorgt Äthiopien mit 440 Personen, gefolgt von Pakistan mit 316. Österreich bringt es nach dieser Berechnung gerade mal auf eine Person. Viele andere europäische Länder spielen sich irgendwo zwischen eins und null ab.
2. Wie wird die Verantwortung innerhalb der EU geteilt? (Spoiler: bürokratisch, ineffizient, eingriffsintensiv und kleinlich)
Ein Asylantrag innerhalb Europas wird vom Land durchgeführt, das ein Flüchtling als erstes betritt. Darauf hat sich die EU im Dublin-Übereinkommen verständigt. Das klingt nicht besonders logisch und funktioniert in der Praxis auch nicht gut. Die Mittelmeer-Staaten sehen sich im Stich gelassen. Sie haben kein funktionierendes Asylsystem und lassen Flüchtlinge ohne Registrierung weiter ziehen. Nur wenn Asylsuchenden nachgewiesen werden kann, dass sie bereits in einem anderen EU-Land waren, können sie dorthin zurück überstellt werden. Nach Griechenland sind Überstellungen wegen der Menschenrechtslage aber ohnehin nicht zulässig, nach Italien nur eingeschränkt. Der Erfolg ist auch aus einem weiteren Grund bescheiden. Österreich kann zwar Flüchtlinge loswerden, muss aber auch Dublin-Fälle übernehmen. 1.059 Personen wurden von Österreich im Jahr 2013 (der letzten verfügbaren Jahresstatistik) an andere Länder zurück überstellt. 705 Personen kamen im selben Zeitraum zu uns. Neben sinnlosen Kosten nimmt das System den Asylsuchenden die Möglichkeit, gleich in das Land ihrer Wahl zu ziehen. Das schränkt die Flüchtlinge unnötig ein und weil diese ihre sozialen Netzwerke nicht nutzen können, erhöht das auch den Betreuungs- und Integrationsaufwand. Effizienter und schonender für die Betroffenen wäre es, Geld durch Europa zu senden. Aber der Grundsatz, Eingriffe in Persönlichkeitsrechte möglichst sparsam zu setzen, gilt offenbar nicht für Flüchtlinge. Und wenn einmal der Hut brennt, wie steht es dann um die Solidarität? Auf eine einmalige Aufteilung von 40.000 Asylsuchenden, um die Mittelmeerstaaten zu entlasten, konnte sich der Rat der europäischen Innenminister beim letzten Krisengipfel im Juli nicht einigen. Im Herbst wird weiter verhandelt.
3. Wie läuft ein Asylverfahren ab und welche Menschenrechtsverletzungen begründen Schutz? (Spoiler: mehr als Sie vielleicht denken.)
Stellt eine Person in Österreich einen Asylantrag, leitet die zuständigen Behörde, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, ein mehrstufiges Verfahren ein. Eine erste Befragung und Durchsuchung erfolgt durch PolizistInnen, etwa beim Aufgriff an der Grenze. Dann wird im so genannten Vorverfahren geprüft, ob Österreich überhaupt zuständig ist, oder ein anderes europäisches Land. Während dieser Prüfung befinden sich die Flüchtlinge in einer Erstaufnahmestelle oder einem der sieben neuen Verteilerzentren in den Bundesländern. Dort müssen sie „sich zur Verfügung halten“. Schließlich will sich die Behörde eine Abschiebung offen halten. Kommt es zu einem inhaltlichen Verfahren, wird der Flüchtling über die Verteilerzentren in ein Quartier überstellt – so das Vorhaben des neuen Systems, das mit Jahresmitte etabliert wurde.
Im inhaltlichen Verfahren wird im ersten Schritt ermittelt, ob die Person eine gezielte Verfolgung im Herkunftsland plausibel machen kann und ihr daher internationaler Schutz auf Basis der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zusteht. Die GFK schützt vor gezielter Verfolgung und Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Auch soziale, kulturelle oder wirtschaftliche Diskriminierung können – wenn auch sehr selten – den Grad einer Verfolgung erreichen und Asyl begründen. Der rechtliche Status nennt sich „anerkannter Flüchtling“, „Asylberechtigter“ oder „Konventionsflüchtling“ und stellt die Person den StaatsbürgerInnen gleich. Der Schutz gilt in Österreich unbefristet, wegen schwerer Verbrechen kann er aberkannt werden. Liegt kein Asylgrund vor, prüft die Asylbehörde in einem zweiten Schritt, ob eine Abschiebung aus anderen Gründen unzumutbar ist – weil im Herkunftsland Todesstrafe oder Folter drohen oder Bürgerkrieg herrscht. Die rechtliche Grundlage für diesen „Refoulement-Schutz“ ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Das darin verbriefte Recht auf Leben (Artikel 2) sowie das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung und Behandlung (Artikel 3) gelten für alle Personen, die sich im Staatsgebiet der Signatarstaaten befinden. Zwar muss wie beim klassischen Asyl eine individuelle Bedrohung vorliegen, allerdings muss diese nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe erfolgen. In der europäischen und österreichischen Rechtsprechung wurden bereits Misshandlungen im familiären Umfeld, fehlende medizinische Versorgung und sogar die existenzbedrohende wirtschaftliche Situation als unmenschliche Behandlung gewertet. Der Abschiebeschutz nennt sich „Subsidiärer Schutz“ und wird befristet vergeben. Nach ein oder zwei Jahren muss er erneut beantragt werden. Eine automatische Arbeitsbewilligung ist nicht damit verbunden. Im dritten und letzten Schritt wird noch überprüft, ob der/die AntragstellerIn etwa durch überlange Verfahren bereits ein Bleiberecht nach Artikel 8 der EMRK erworben hat – dem Recht auf Privat- und Familienleben. Geprüft werden die Dauer des Aufenthaltes, die familiären und sonstigen sozialen Bindungen, die strafrechtliche Unbescholtenheit sowie die Bindungen im Herkunftsland. Besteht ein Rechtsanspruch wird eine „Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen“ erteilt. Bei vorhandenen Deutschkenntnissen gilt diese unbefristet.
4. Können wir alle aufnehmen? (Spoiler: Ja, wir müssen. Und wir können es auch.)
Ein Land, das die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, gibt zunächst jedem Menschen der Welt das Recht auf ein Asylverfahren. In der EU teilen sich die Mitgliedsstaaten diese Verpflichtung. Theoretisch muss Europa alle Verfolgten der Welt auch tatsächlich aufnehmen. Berücksichtigt man allerdings die Verteilung der 60 Millionen Flüchtlinge weltweit, wird klar, wie weltfremd die Annahme ist, es kämen auch alle, wenn sie nur die Möglichkeit hätten, nach Europa.
Das hindert mit der Unterbringung von Flüchtlingen überforderte Landeshauptleute nicht daran, die Festlegung einer Höchstzahl von Flüchtlingen – eine eklatante Menschenrechtsverletzung – zu verlangen. Auch Außenminister Sebastian Kurz und Innenministerin Johanna Mikl-Leitner wollen angesichts der Schwierigkeiten, die Opfer des syrischen Krieges wie Menschen einzuquartieren, eine „ehrliche Diskussion über den Migrationsdruck aus Afrika“. Diese neue Ehrlichkeit zielt freilich nicht auf die Beseitigung von Menschenrechtsverletzungen in den Herkunftsländern ab, schließlich würde die Durchsetzbarkeit sozialer Rechte den Investorenschutz konterkarieren. Vielmehr soll das Recht, einen Asylantrag in Europa zu stellen, durch weitere Abschreckung immer teurer und gefährlicher werden. Diese Tendenz führt allerdings, zu Ende gedacht, zur Aushöhlung des Asylrechts. Wenn alle Staaten die Antragstellung durch Grenzzäune verhindern, gibt es zwar ein Recht auf Asyl, aber keine Möglichkeit einen Antrag zu stellen.
Eine menschenrechtsorientierte Politik würde daher für die Verbesserung der Lage in den Herkunftsländern Verantwortung übernehmen. Und eingestehen, dass unsere Lebensweise zwangsläufig ökologische, ökonomische und politische Folgen für den Rest der Welt hat. Wenn Politik einmal einen systemischen Blick entwickeln und globale Probleme nicht mehr als externe Kosten begreifen würde, dann würden wir auch ohne tödliche Abschottung in der Lage sein „alle zu nehmen“. Denn dann hätten weniger Menschen Grund zu fliehen.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo