Begegnungen auf Augenhöhe
Jahrelang engagieren sich Menschen in Österreich in sozialen Einrichtungen ohne eine große Sache daraus zu machen. Das MO-Magazin hat zwei Mitarbeiterinnen der VinziRast in Wien vor den Vorhang gebeten: Elisabeth Prent und Marie-Isabelle Schallenberg. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Eva Maria Bachinger, Fotos: Lisi Niesner.
Ich könnte ja an seiner Stelle sein“, sagt sich Marie-Isabelle Schallenberg in schwierigen Situationen wie jener, als es ihr schwer fiel, einem betrunkenen Obdachlosen, der sich von oben bis unten angekotzt hatte, zu helfen. Die meisten würden wohl sagen, in so eine Situation komme ich nie. „Aber es kann schneller abwärts gehen, als man für möglich gehalten hat, es kann jedem passieren“, so Schallenberg. Sie ist eine zierliche Frau und spricht leise, mit französischem Akzent. In Brüssel geboren, in Paris aufgewachsen, lebt die 50-Jährige seit mehr als 20 Jahren in Wien und engagiert sich ehrenamtlich bei der VinziRast. Die Organisation betreibt eine Notschlafstelle, Wohngemeinschaften sowie das Cafe-Restaurant „Mittendrin“. Es wird viel Wert auf Begegnungen auf Augenhöhe gelegt, auch wenn die sozialen Unterschiede mitunter groß sind. In der Notschlafstelle gibt es keine KlientInnen, sondern nur „Gäste“.
Schallenberg hat in Frankreich Finanzwirtschaft studiert und im Bankenbereich gearbeitet. „Aber dort habe ich mich zunehmend gelangweilt“. Nach der für sie schmerzhaften Trennung von ihrem Ehemann hat sie begonnen sich zu überlegen, was sie eigentlich schon immer in ihrem Leben machen wollte. Sie begann in einem Chor zu singen und sie wollte sich in einem sozialen Verein engagieren, nur wusste sie nicht, wie und wo. Durch eine Freundin lernte sie die VinziRast-Gründerin Cecily Corti kennen. „Wir saßen im Café Mittendrin und haben uns auf Anhieb gut verstanden. Sie hat gesagt, morgen fängst du an.“ Seit fünf Jahren macht Schallenberg monatlich zwei Abenddienste in der Notschlafstelle und hilft im Büro bei der Administration. Beeindruckend findet sie was ehrenamtlich geleistet wird: „Kollegin Susanne, die über 90 Jahre alt ist, kommt jeden zweiten Tag zum Kartenspielen mit den Gästen. Auch großartig ist, dass jeden Abend immer von Ehrenamtlichen für alle Gäste gekocht wird.“
Einen Moment der Ruhe
Motivation und Kraft schöpfe sie vor allem aus ihrem Glauben. „Ich tue es aus Nächstenliebe. Wenn durch mich ein bisschen Freude, Trost und Liebe vermittelt werden kann, dann bin ich zufrieden. Man muss aber auch demütig sein und akzeptieren, dass man manchmal nicht so viel ändern kann. Doch für Betroffene werden die wichtigsten Grundbedürfnisse erfüllt, Essen, ein Bett, eine Dusche, Kleidung.“ Dass man an Grenzen gerate, sei ganz normal: „Es gibt jene, die das System ausnutzen, das nervt. Und es gibt jene, die wieder zum Trinken anfangen, obwohl wir alles Mögliche getan haben. Was ist der Sinn, das fragt man sich natürlich immer wieder mal. Wir können nicht die ganze Armut abschaffen, wir haben nur rund 50 Betten. Aber wenn wir etwa im Winter nicht da sind, können diese Menschen auf der Straße erfrieren. Bei der VinziRast finden sie einen kleinen Moment Ruhe in einem schwierigen Leben.“ Erfüllung geben ihr die Begegnungen, erzählt sie im Schlafbereich, wo sie lieber ist als beim Empfang, und sich nun mit Kollegin Elisabeth Prent für diese Geschichte fotografieren lässt: „Eine Frau ist mir besonders ans Herz gewachsen, sie ist eine begabte, musikalische Frau, aber sie hat schlimme seelische Verletzungen erlitten, hat getrunken und wird es wohl nie schaffen. Sie ist nun im Gefängnis, aber ich habe noch immer Kontakt zu ihr.“ Oder: „Ein großer, starker Mann aus Afrika hat mir geholfen ein Bett zu überziehen. Plötzlich hat er zu weinen begonnen. Weißt Du, ein Bett zu machen, das habe ich zuletzt mit meiner Mutter gemacht, hat er zu mir gesagt.“
Ein anderer Blick
Durch ihre ehrenamtliche Arbeit hat sich ihr Blick auf Obdachlose geändert. „Früher habe ich auch nicht gewusst, was mach ich, wenn jemand auf der Straße sitzt. Schau ich hin, wende ich mich ab? Geb ich einen Euro oder nicht? Ich habe gelernt hinzuschauen und zuerst grüße ich. Es sind Menschen wie Du und ich, es tut ihnen gut, wenn sie wahrgenommen werden. Ich komm dann oft ins Gespräch.“ Schallenberg stammt aus einem wohlhabenden, adeligen Umfeld, das anfangs mit Verständnislosigkeit – „Wie kannst du so was machen?“ – und später mit Erstaunen auf ihre Tätigkeit reagiert hatte. „Wenn die Leute sehen, dass man es regelmäßig macht, oder wenn ich einen unserer Gäste plötzlich auf der Straße treffe und er mich umarmt, dann reagieren viele mit Befremden, aber auch mit Bewunderung. Viele können sich nicht vorstellen, was sie mit einem Obdachlosen gemeinsam haben könnten.“
Menschenrecht und Menschenpflicht
Ihre Kollegin Elisabeth Prent arbeitet seit neun Jahren ehrenamtlich bei der VinziRast und ist seit zwei die Leiterin der Notschlafstelle. Bei einer Veranstaltung im Radiokulturhaus ua. mit VinziRast-Gründerin Cecily Corti wurde sie auf die Organisation aufmerksam. Früher hat sie als kaufmännische Angestellte gearbeitet und ist durch den Beruf ihres ersten Mannes viel herumgekommen. Die vierköpfige Familie hat in München, Rom, Kairo, Athen und Istanbul gelebt. Nach der Pensionierung hat sie begonnen sich in der VinziRast zu engagieren, gemeinsam mit ihrem zweiten Mann. Derzeit macht Prent vier bis sechs Nachtdienste im Monat, zusätzlich die Koordination der MitarbeiterInnen, Teambesprechungen, Supervision, Protokolle. Sie ersetzt damit defacto eine Teilzeitkraft.
Für die 69-Jährige gehört es zum Leben dazu, aufmerksam und wachsam zu sein für all das, was in der Gesellschaft und auf der Welt passiert: „Einfach zu sagen, ich will helfen; das greift zu kurz. Es ist eine Art menschliche Pflicht. Wenn es Menschenrechte gibt, dann gibt es auch Menschenpflichten. Das gehört zusammen. Damit Menschenrechte ganz allgemein umgesetzt werden können, bedarf es des Engagements möglichst vieler Menschen – ganz selbstverständlich.“ Sie verweist auch auf einen Slogan der VinziRast: „Wir gehören alle zusammen.“ Folglich: „Wenn das so ist, muss man ein Gespür für Notwendigkeiten entwickeln. Es ist eine Notwendigkeit sich für andere Menschen einzusetzen, die aus irgendeinem Grund aus dem üblichen System herausgefallen sind. Wir können sie ja nicht entsorgen, auch wenn das manche wie es derzeit öfters den Anschein hat, glauben tun zu können. Mangel unterschiedlichster Art begegnet uns immer wieder. Diesen im Rahmen der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten etwas auszugleichen – das erscheint mir sehr wichtig.“
„Die Chefin bin ich“
Die konkrete Arbeit in der Notschlafstelle sei auch mehr als nur Menschen mit einem Bett und Essen zu versorgen. „Es geht auch um Empathie und Verständnis, wie es zu so einer Situation gekommen ist. Es ist auch keine eingleisige Sache, ich bilde mich hier weiter. Ich hoffe, dass meine Herzensbildung voranschreitet im Laufe der Jahre.“ Mittlerweile habe sie viel über Obdachlosigkeit gelernt und über ihre Grenzen. „Man meint, man sei so tolerant, aber nicht immer fällt alles so leicht. Man lernt eine bestimmte Form von Gelassenheit und braucht auch mitunter viel Geduld.“ Manche Gäste seien aggressiv und unzufrieden, die Mitarbeiterinnen seien dann der Prellbock. Zudem steige die Zahl der psychisch kranken Obdachlosen. „Viele kommen total betrunken, viele sind drogenabhängig, sie sind oft gar nicht in der Lage, etwas koordiniert zu sagen oder zu tun. Und trotzdem müssen sie ein Minimum an Fähigkeiten aufbringen um in ihr Bett zu gelangen, sich zu duschen, nicht nackt herumzulaufen, um 22 Uhr still zu sein, um 8 Uhr früh wieder draußen zu sein. Die Einhaltung dieser minimalen Regeln ist eine Bedingung, um das Bett nicht zu verlieren. Es gibt fast keine Beschwerden aus der Nachbarschaft, wir schauen, dass nachts Ruhe herrscht, dass der Gehsteig sauber ist. Es ist wohl der sauberste Gehsteig im 12. Bezirk, weil er jeden Tag gewaschen wird“, lacht Prent. Besonders schwierig sei es, Menschen wegschicken zu müssen, weil alle Betten belegt sind; und alle anderen Einrichtungen ebenso. „Eine Herausforderung ist auch, dass manche Gäste nicht in der Lage sind, uns auch nur ein Minimum an Wertschätzung entgegenzubringen. So hören wir manchmal: ‚Von einer Frau lass ich mir nichts sagen‘ – und wir sind an manchen Abenden fast nur Frauen, ‚ich will mit dem Boss sprechen, meint einer, wir haben keinen, die Chefin bin ich.“
Die Vielfalt sei bei der VinziRast auch auffallend, durch die Ehrenamtlichen und durch die Gäste: „Einmal hatten wir 13 verschiedene Nationalitäten in 48 Betten.“ Prent versucht im Bekanntenkreis Ehrenamtliche zu gewinnen, doch: „Da erklärt man mir immer wieder: ‚Ich würde diese Arbeit nicht aushalten, ich kann mir nicht vorstellen, mit solchen Menschen zu tun zu haben‘: aber ich denke schon, dass da mitunter auch Bequemlichkeit dabei ist. Viele Begründungen kann ich verstehen: Es gibt Phasen im Leben, da fordert die Familie viel Aufmerksamkeit; oder der Beruf; oder auch die eigene Gesundheit. Ein Engagement hat aber auch mit einer gewissen Einstellung zum Leben oder dem Menschenbild zu tun. Wenn man den eigenen Blickwinkel vergrößert, dann führt das irgendwie automatisch dazu, sein Leben bewusst und mit viel Engagement zu gestalten – im Sinne der Gemeinschaft.“
Ehrenamtliche MitarbeiterInnen werden gesucht, vor allem für Nachtdienste und Kochdienste in der Notschlafstelle. Bei Interesse wenden Sie sich an: Obfrau Veronika Kerres, v.kerres@vinzirast.at.
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